Wenn man sehen möchte, wo sich die Ökonomie von ihrer schlechtesten Seite zeigt, muss man ein Internetforum mit dem Namen „Economics Job Market Rumors“ ansteuern. Dort tummeln sich Zehntausende Nutzer, mutmaßlich aus dem Dunstkreis der volkswirtschaftlichen Fakultäten, allesamt anonym, und unterhalten sich über ihre Disziplin. Wenn das gut läuft, bekommen junge Wissenschaftler dort nützliche Karrieretipps.
Genauso findet sich dort aber eine Flut von toxischen Kommentaren übelster Sorte. „Die größte Gefahr für Amerika sind die Schwarzen“, heißt es dann etwa, oder: „Die durchschnittliche Frau hat ein 15 Prozent kleineres Gehirn als ein Mann.“ Oft richten sich die Kommentare auch persönlich gegen bestimmte Wissenschaftler, insbesondere Frauen und Minderheiten. Gelöscht werden diese Inhalte nicht, sie bleiben jahrelang online.
Viele Ökonomen sehen die schlimmsten Auswüchse des Forums als Zeichen eines systemischen Problems, als Spitze des Eisbergs in einer Disziplin, die immer noch wie wenige andere von weißen Männern dominiert wird. Andere argumentierten bisher, es sei nur eine kleine Minderheit von Doktoranden und Leuten außerhalb der Universitäten, die dort posten. Das Forum bekommt in der Fachwelt jedenfalls genug Aufmerksamkeit, dass sich die wichtigste amerikanische Ökonomenvereinigung genötigt sieht, die „sexistischen, rassistischen, homophoben und antisemitischen Aussagen“ dort öffentlich zu verurteilen.
„Wir haben das in 15 Minuten erraten“
Jetzt zeigt sich: Der Schutz der Anonymität reicht offenbar nicht so weit, wie die Nutzer dachten. Mit einem neuen Forschungspapier sorgen die Ökonomen Florian Ederer, Paul Goldsmith-Pinkham und Kyle Jensen gerade für Aufsehen. Ihre Ergebnisse lassen ahnen, dass die toxischen Inhalte auf EJMR weit mehr als ein Randphänomen der Volkswirtschaftslehre sind. Der Rassismus und Sexismus kommt zum Teil direkt aus den besten Universitäten der Welt.
Mithilfe öffentlicher Daten und „einfacher Statistik“, wie Ederer bei einer Präsentation der Ergebnisse sagte, konnten die Forscher mit einer Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schnell 50.000 IP-Adressen von EJMR-Nutzern identifizieren und sie Beiträge auf der Seite zuordnen. Sie machen sich zunutze, dass die anonymen Nutzernamen von EJMR nach einem festen System vergeben wurden, das die möglichen IP-Adressen stark einschränkte. „Wir haben das in 15 Minuten erraten“, so Ederer. Dann brauchten die Forscher nur noch einen sehr schnellen Computer, der ausrechnete, welche IP-Adressen bei mehreren Beiträgen infrage kamen. So konnte sie die Zahl der möglichen IP-Adressen von über 65.000 auf eine einzige reduzieren.
Mit den Adressen konnten die Ökonomen zwar keine Personen identifizieren, wohl aber deren möglicher Standort. Das Ergebnis: Die Beiträge kamen häufig aus Städten mit sehr guten Universitäten. Ganz vorne steht Chicago, gefolgt von Hongkong, New York, Cambridge (wo die Universitäten Harvard und MIT ansässig sind) und London. Wo sich IP-Adressen einem Universitätsnetzwerk zuordnen ließen, tauchen auf den vorderen Plätzen der Eliteunis Stanford, Columbia, Chicago und Berkeley auf.
Die Studie räumt auch mit der Ausrede auf, dass sich Nutzer nur auf EJMR herumtreiben, ohne zur toxischen Kultur beizutragen. Im Durchschnitt wären 15 Prozent der Posts von einer IP-Adresse selbst toxisch, mehr als die Hälfte würde in Diskussionen gepostet, in denen andere sich toxisch verhalten. „Die Leute tolerieren diese Toxizität“, so Ederer.
Bemerkenswert ist die Studie der drei Ökonomen auch deshalb, weil sie zeigt, wie anfällig Anonymität im Internet ist. Das hat viel mit dem rasanten Anstieg der Rechenleistung zu tun. Die MIT-Ökonomin Catherine Tucker wies in der Diskussion des Papiers genau darauf hin. Ein Computer, der verschlüsselte Daten auf dieser Art entschlüsseln kann, habe 2005 noch über 25 Millionen Dollar gekostet. Bis 2015 war der Preis auf etwa 100.000 Dollar gefallen. Ederer und seine Kollegen hatten ein Gerät für weniger als 8000 Dollar benutzt. Zu sicher sollte sich auch niemand mehr sein, dass anonyme Beiträge auch in Zukunft anonym bleiben.
Quelle:Wirtschaft – FAZ.NET