Würde die Wahl zum Unwort des Jahres wirtschaftlichen Faktoren folgen, führte an „De-coupling“ kaum ein Weg vorbei. Gemeint ist eine weitgehende Entkopplung der eigenen von der chinesischen Wirtschaft. Seinen Ursprung hat der Begriff wohl in Amerikas versucht, sich von sinnvoller Technologie aus China unabhängig zu machen. Später wurde die Idee als Reaktion auf schwere Menschenrechtsverletzungen im Reich der Mitte zur Maxime erhoben. Der Gedanke, man könne sich mal eben von der zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde komplett abnabeln, ist aber bestenfalls naiv. Für westliche Industrieländer und gerade für Deutschland gilt: Ohne China geht es zunächst nicht.
Deshalb ist es richtig, dass in der lange erwarteten China-Strategie des Auswärtigen Amtes stattdessen vom „De-risking“ die Rede ist, also der Verringerung der Abhängigkeit von China. Ein Vorgang, den viele deutsche Unternehmen ohnehin längst eingeleitet haben, aus Sorge vor einer militärischen Eskalation der Taiwan-Frage. Mit Hochdruck läuft die Suche nach alternativen Standorten in der Region. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck Preist Indien in höchsten Tönen. Doch die jüngst gescheiterte Ansiedlung des taiwanischen Technologiekonzerns Foxconn im nun bevölkerungsreichsten Land zeigt, dass ein Hoffnungsträger noch lange kein Selbstläufer ist.
Überragender Lieferant nicht nur von Rohstoffen
An der Stelle gilt es, mit einem weit verbreiteten Irrtum aufzuräumen: Weniger Risiko heißt für die meisten Unternehmen nicht, ihr Chinageschäft brachial auf Kosten von Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit herunterzufahren. Es bedeutet stattdessen, in anderen Weltregionen deutlich mehr Geschäft zu machen und damit Risiken neu auszubalancieren. Denn die Abhängigkeit von Deutschlands wichtigstem Handelspartner bleibt auf absehbare Dauer hoch – gleich in zweierlei Hinsicht.
Zum einen spielen mehr als eine Milliarde Chinesen auch künftig eine herausragende Rolle als Absatzmarkt für deutsche Produkte. Davon können nicht nur hiesige Autokonzerne ein Lied singen, die bis zur Hälfte ihrer Gewinne dort erwirtschafteten, nun aber aufpassen müssen, von neuen chinesischen Wettbewerbern nicht überrundet werden. Auch der weltgrößte Chemiekonzern BASF kann es sich nicht leisten, dem weltgrößten Chemiemarkt fern zu bleiben, und muss aus seinem mehr als 10 Milliarden Euro teuren Verbundstandort in Zhanjiang größtmöglichen Gewinn schlagen. Auch Siemens-Chef Roland Busch hat die Delegation um Ministerpräsident Li Qiang beim jüngsten Deutschlandbesuch hofiert und weitere Investitionen angekündigt.
Zweitens nimmt China als Lieferant von Rohstoffen und Vorprodukten eine überragende Stellung ein. Solarpanels, Akkus für Elektroautos, Bauteile für Windräder: Ohne China fällt die Energiewende im Westen aus. In fast allen Industriezweigen sind chinesische Lieferungen derzeit kaum zu ersetzen. Gerade hat Peking die Muskeln spielen lassen: Von August müssen inländische Exporteure von Gallium und Germanium Lizenzen beantragen. Die Rohstoffe sind wichtig für die Chipindustrie bzw. Batterieproduktion. Ein cleverer Schachzug, denn damit wird dem Westen unmissverständlich signalisiert: Wir können euch wehtun, wenn wir wollen. Ein Warnschuss vor allem nach Washington, das China den Zugang zu bestimmten Chips und anderer Zukunftstechnologie beschneidet.
Gallium und Germanium können angesichts relativ geringer benötigter Mengen als Einstiegsdrohung betrachtet werden, hat Peking doch noch ein weit schwereres Geschütz im Arsenal: Exportbeschränkungen für Lithium gelten unter Fachleuten als „Bazooka“ im Rohstoffkrieg. Das Metall wird für die Akku-Produktion noch immer in großen Mengen benötigt, und China nimmt in den Produktionsketten eine zentrale Rolle ein.
Doch es gibt gute Argumente, warum Peking es bei Drohungen und Nadelstichen belassen könnte. Denn komplementär zur Importabhängigkeit des Westens befindet sich China in einer starken Exportabhängigkeit von den dortigen Märkten. An wen könnten seine Rohstoffkonzerne sonst viele Produkte verkaufen, wenn nicht an Industriekunden in Europa und Amerika? Und wohin sollen Konsumgüter „made in China“ in großen Mengen geliefert werden, wenn kein zahlungskräftiger Verbraucher dieser Regionen?
Chinas Binnennachfrage lahmt wie lange nicht. Dass sich die Autoindustrie auch mit Exporten nach Russland über Wasser hält, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Entkopplung vom Westen für die Chinesen wohl ein ähnlich desaströses Unterfangen wie andersherum darstellt. Höchste Zeit, den Begriff zu den Akten zu legen.
Quelle:Wirtschaft – FAZ.NET