Es war wohl Zufall, dass vor zwölf Jahren ein eritreisches Kulturfestival nach Gießen kam. Eine enge Verbindung gibt es zwischen der Stadt in Mittelhessen und dem ostafrikanischen Staat nicht. In Frankfurt, wo die Veranstaltung bis dahin stattfand, hatte man bemerkt, dass nicht nur Volkstänze getanzt und Lieder gesungen wurden; In der Folge wurde die dortige Halle nicht mehr vermietet.
Auch in Gießen dauerte es nicht lange, bis der Stadtrat eine Erklärung verabschiedete, mit der er die Propaganda der eritreischen Diktatur verurteilte. Dennoch fand jenes Fest Jahr für Jahr statt, begleitet von meist friedlichen Protesten eritreischer Oppositionsanhänger.
Bis August vergangenen Jahres, als Awel Said in Gießen auftreten sollte. Ein Mann, der sich selbst als Dichter bezeichnet, den Regimekritiker einen gefährlichen Hetzer nennen. Die Opposition war aufgebracht. Ein großer Protestaufruf erringt. Einigen Anhängern der Opposition gelang es, auf das Messegelände zu kommen, wo der Auftritt stattfinden sollte. Mit Eisenstangen, Messern und Steinen attackierten sie die Helfer der Veranstaltung, schlugen vieles kurz und klein. Polizisten, die einschritten, wurden verletzt. Besagter Auftritt musste abgesagt werden.
Im Rückblick war es ein entscheidender Moment. Darüber sind sich Beobachter einig. Die Stadt Gießen versuchte von da an, dass es unter keinen Umständen wieder zu solchen Krawallen kommen sollte, und drängte auf ein Verbot der Veranstaltung – scheiterte aber vor Gericht. In Teilen der eritreischen Opposition, die dem Aufruf auch aus dem europäischen Ausland folgten, fand eine stärkere Vernetzung statt. Vor allem Jüngere, die erst vor wenigen Jahren aus Eritrea geflohen waren, merkten, was sie mit Gewalt erreichen können.
Ausschreitungen vor gut zwei Wochen
Als vor gut zwei Wochen wieder das Eritrea-Festival in Gießen stattfand, die Polizei mit rund tausend Beamten im Einsatz war, überraschte es Klaus-Dieter Grothe nicht, wie heftig die Ausschreitungen ausfielen. Auch wenn er gehofft hatte, dass es anders kommt, wie er sagt. Der Gießener Stadtrat von den Grünen hat bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 2019 als Jugendpsychologe vor allem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge behandelt. „Der Zorn unter den jungen Eritreern ist sehr groß“, sagt Grothe, der sich seit mehr als zehn Jahren gegen das Festival engagiert.
Viele verstehen nicht, dass ein Regime, das foltert, entführt und durch einen Zwangsdienst seine Bevölkerung versklavt, in Deutschland öffentliche Auftritte durchführen dürfe, so Grothe. Was nun eingetreten ist, klingt wie ein negativer Lerneffekt: Ein anderes Eritrea-Festival, das wenige Tage später in London stattfinden sollte, wurde aufgrund der Gefahrenprognose der dortigen Behörden abgesagt – man hatte genau verfolgt, was in Gießen geschehen war.
Aklilu Ghirmai ist im Bistum Limburg für die eritreische Gemeinde zuständig. Er sagt: „Die Wut von Gießen war ein Ausbruch der Jugend.“ Die Gewalt lehnte er ab. Um sie zumindest besser zu verstehen, sagt er über die Motive der Jungen: „Sie halten den friedlichen Protest der Älteren für wirkungslos und erkennen in Gewalt das einzige Mittel.“ Manche wurden geschockt gewesen, dass Gleichaltrige zum Festival gegangen waren.
Quelle:Aktuell – FAZ.NET