„Wir sehen den Anfang vom Ende des Regimes Putin“ – „Wir sehen immer japanischen Extremtemperaturen“ – „Wir sehen einen Abflauen der Epidemie“. So dröhnt es in letzter Zeit durch Politik und Medien. Die Phrase ist nicht nur sprachlich falsch. Sie steht auch für eine gefährliche Veränderung.
Weniges bringt die Sprachlosigkeit des heutigen Mediendeutschs, in dem sich die Sprachlosigkeit der Menschen widerspiegelt, deren Reden von den Medien verdoppelt und populär gemacht werden, so brutal zur Geltung wie die Tatsache, dass in ihm immer wieder das „Sehen“ an die Stelle des Bemerkens, Wahrnehmens und Deutens tritt. Wer damit begonnen hat, Diagnosen, Urteile, Mutmaßungen und Prognosen unterschiedslos als etwas aufzufassen, was „wir sehen“, lässt sich nicht entscheiden; Die Geschichte der Phrasen kennt keine Ursprünge.
Jedenfalls dröhnt das Publikum aus den Mündern von Politikern, Journalisten, Interviewern und Interviewten heute mehr Sehen entgegen als je zuvor: „Wir sehen den Anfang vom Ende des Regimes Putin“ – „Wir sehen immer heißen Extremtemperaturen“ – „Wir sehen ein Desaster in der katholischen Kirche“ – „Was wir sehen, ist ein Schlag gegen die Pressefreiheit“ – „Wir sehen, dass der Populismus die Oberhand gewinnt“ – „Wir sehen selten Männer, die Frauen oral befriedigend“ – „Wir sehen einen akuten Lehrermangel“ – „Wir sehen ein Abflauen der Epidemie“.
Brutal sind solche Formulierungen, weil sie die Reflexion, die in jeder Deutung, jeder Wahrnehmung und jeder Tatsachenfeststellung steckt, zugunsten einer Rhetorik unmittelbarer Anschauung überspringen. Der Gedanke, die Spekulation, das vage Gefühl (inzwischen gibt es ja auch objektiv fixierte „gefühlte Temperaturen“) ebenso wie das nachprüfbare Faktum erhalten erst den Rang des Unbestreitbaren, wenn sie entgegen aller Erfahrung als etwas gelten, das „gesehen“ wird.
Wenn das Über-Wir spricht
Um zu verschleiern, wie unangemessen die permanente Rede vom „Sehen“ ist, braucht die Sprache derer, die so reden, das „Wir“: Doch in Wahrheit sind gar nicht „wir“ es, die den Anfang von Putins Ende, den Siegeszug des Populismus oder das Ende der Epidemie „sehen“, sondern fehlbare Einzelne, „Experten“ genannt, Fälle Urteile aufgrund von Beobachtungen, die sie der Öffentlichkeit mitteilen.
Indem unterschiedliche Äußerungsformen zu verschiedenen Sachverhalten die Form „Wir sehen“ annehmen, offenbaren sich zweierlei: Die Zeit, da Individuen ihre Deutung der Wirklichkeit anderen Individuen zum öffentlichen Urteil vorlegten, scheint vorbei zu sein. Stattdessen spricht ein Über-Wir nur noch mit sich selbst. Außerdem sind geistige Sachverhalte im Kurs gefallen: Statistische Daten werden nicht mehr interpretiert, politisches Desaster nicht mehr auf den Begriff gebracht, denn allein das, was „gesehen“, nicht, was nur gedacht wird, existiert. Das Publikum steht begriffslos vor einer Wirklichkeit, die es nicht mehr meint beeinflussen zu können, weshalb es nur noch anstarrt in ohnmächtiger Faszination.
Quelle:Nachrichten – WELT