Der Durchbruch ließ lange auf sich warten, vergangene Woche war es dann so weit: „Einigung nach 123 Tagen Streik“, verkündete die IG Metall. Zunächst hatte sich der Windkraftanlagenhersteller Vestas gegen die Einführung von Tarifverträgen gestellt. Doch unter dem Druck der Gewerkschaft ließ er sich am Ende auf den Abschluss mehrerer Abkommen über Lohn- und Arbeitsbedingungen für sein Personal in Deutschland ein. „Mit Solidarität, Kraft und Ausdauer lässt sich viel erreichen – hoffentlich bald auch in vielen anderen Betrieben der Windbranche, die bei Tarifverträgen noch Nachholbedarf haben“, ordnete IG-Metall-Bezirkschef Daniel Friedrich diese Erfahrung ein.
Im gesamtwirtschaftlichen Maßstab scheinen solche tarifpolitischen Erfolge aber mittlerweile eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Denn der Anteil der Betriebe und Beschäftigten, die an Tarifverträge gebunden sind, ist im vergangenen Jahr ein weiteres Mal gesunken, wie eine neue Analyse des Institute für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt. Demnach arbeiteten zuletzt noch 41 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit Tarifvertrag, verglichen mit 60 Prozent zur Jahrtausendwende. Allein von 2017 bis 2022 sank der Anteil um 7 Prozentpunkte.
Daneben arbeiten zwar weitere 10 Prozent der Beschäftigten in Betrieben, die (wie nun Vestas) einen Firmentarifvertrag haben – also kein branchenweites Abkommen; Das sind sogar 2 Prozentpunkte mehr als noch 2017. Am insgesamt rückläufigen Trend ändert es sich aber wenig. Zur Jahrtausendwende arbeiteten noch gut zwei Drittel der Beschäftigten unter den Bedingungen eines Branchen- oder Firmentarifvertrags, zuletzt noch 51 Prozent. Zugleich schrumpfte der Anteil der Betriebe mit Tarifvertrag, gemessen an allen Betrieben, in dieser Zeit von 43 auf nur noch 25 Prozent.
Heil wird mehr Betriebe zu Tarifverträgen zwingen
In der politischen Debatte und von Gewerkschaften wird dieser Nachteil der Tarifbindung oft mit dem Begriff „Tarifflucht“ beschrieben. Damit wird nahegelegt, dass immer mehr Arbeitgeber aktiv aus geltenden Tarifverträgen aussteigen, um Arbeitsbedingungen für ihre Beschäftigten zu verschlechtern. Vor diesem Hintergrund Werksarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) derzeit ein Gesetzespaket, mit dem mehr Betriebe von Staats wegen an Tarifverträge gebunden werden sollen, die andere Arbeitgeber ohne ihr Mandat mit Gewerkschaften geschlossen haben.
Hagen Lesch, Tarifforscher am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), hält hingegen wenig von dem „Tarifflucht-Narrativ“. „Einer der Hauptfaktoren scheint der Strukturwandel der Wirtschaft zu sein“, erläutert er. Demnach hat die sinkende Tarifbindung weniger dazu geführt, dass sich Betriebe aktiv von Tarifverträgen abwenden. Aber neu entstehende Betriebe, zumal in der Digitalwelt, wenden sich seltener als frühere Tarifverträge zu – wohl auch deshalb, weil sich Arbeitnehmer heute weniger selbstverständlich in Gewerkschaften organisieren. Die Mitgliederzahl unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) ist seit der Jahrtausendwende von fast 8 Millionen auf 5,6 Millionen gesunken.
Lesch suchte seine Analyse auf einer IW-Studie, die untersuchte, mit welchen Motiven Betriebe ihre Bindung an einen Tarifvertrag begründen. Zu den am häufigsten genannten Motiven zählte „Tradition“ – Betriebe haben einen Tarifvertrag, weil sie schon immer einen hatten. Demgegenüber führten nur 4 Prozent „Druck der organisierten Belegschaft“ als Motiv für ihre Bindung an einen Tarifvertrag an.
Sinkende Motivation zur Interessenvertretung
Die neue IAB-Studie, die auf einer Erhebung unter 15.000 Betrieben beruht, liefert keine konkreten Erkenntnisse über Ursachen der sinkenden Tarifbindung. Sie zeigt aber einen zweiten Trend – und dieser belegt zumindest indirekt die These von einer sinkenden Motivation der Arbeitnehmer, sich an kollektiver Interessenvertretung zu beteiligen: Die Erhebung ergab, dass der Anteil der Betriebe mit Betriebsrat von 16 Prozent im Jahr 2002 auf nur noch 11 Prozent gesunken ist. Auch für Betriebsräte gilt, dass es sie am häufigsten in großen Unternehmen gibt. Der Anteil der Beschäftigten, die von Betriebsräten vertreten werden, lag zuletzt bei 39 Prozent.
Allerdings gibt es einen großen Unterschied zum Durchsetzen von Tarifverträgen, wenn es um die Gründung eines Betriebsrats geht: In diesem Fall haben die Beschäftigten einen harten gesetzlichen Anspruch auf ihre Seite – Arbeitgeber, die sich gegen eine Betriebsratsgründung wehren, sogar strafbar handeln. Dennoch sank die Verbreitung von Betriebsräten in ähnlichem Tempo wie die von Tarifverträgen. Lesch weist auf einen Zusammenhang hin: Die Empirie lege nahe, dass die Gründung eines Betriebsrats häufig der erste Schritt auf dem Weg zur Bindung an einen Tarifvertrag sei.
Quelle: Aktuell – FAZ.NET