ICHn der phantasiebeflügelten Zeit der Kindheit geschieht Unglaubliches: Bettvorleger werden nachts zu Tigern auf dem Sprung. Unser unsichtbarer Freund braucht sein eigenes Gedeck beim Abendessen. Nicht immer aber sind die ausgedachten Vorkommnisse harmlos. Das Geräusch einer zuschlagenden Tür kündigt Unheil an, die Vorstellungskraft spielt Schabernack. Die Kraft der Phantasie bringt Ungeheuer zur Welt. Je freundlicher sie sich geben, umso verdächtiger sind sie.
Die sechsteilige Zweizigminuten-Serie „Die nettesten Menschen der Welt“ nutzt diese Erfahrung als Spielmaterial, um aus dem Alltäglichen den Horror wachsen zu lassen. Hier biegt der Schrecken wie im Gedankenblitz um die Ecke scheinbar harmloser Ereignisse. Wie in „Elmchen I“ und „Elmchen II“. Marten (Anton von Lucke) ist der nette Typ schlechthin, als Student ein bisschen verbummelt und sehr verliebt in Anne (Lena Klenke). Die nimmt Rücksicht auf seine Gefühle und gibt ihm den Laufpass, weil sie ihn zu wertvoll findet, um in einer festen Beziehung mit ihr zu sein. Nacht für Nacht muss sich Marten anhören, wie Anne und sein Mitbewohner Ben (Liam Mockridge) lautstarken Sex haben. Martens Eltern Fritz und Jana (Axel Milberg und Jessica Kosmalla) finden, dass sein Schulfreund Etienne (Marius Ahrendt) alles richtig macht. Hat er nicht in Rekordzeit studiert und schon sein eigenes Start-up gegründet? Onkel Marco (Fabian Hinrichs) hält Marten wenigstens für nützlich und hat ihn mit der Pflege seines Haustiers vertraut. Elmchen braucht Gesellschaft. Aber Elmchen braucht auch einen Wirt: den lieben Marten. Allen, denen Marten auf die Nerven ging, geschehen terrormäßige Dinge. Der Dank des Pfleglings.
Ausgeburten der Phantasie?
Fabian Hinrichs ist auch der psychologisch versierte „Human Resources“-Verantwortliche in einem denkwürdigen Bewerbungsgespräch (Folge „Junior“), in dem die hochbegabte Kay (Stephanie Amarell) mit ihrer Konkurrentin Petra (Silke Bodenbender) Drucksituationen besonderer Art erlebt. Für den stets übersehenen Nachtportier Mika (Sebastian Urzendowsky) in „Häxan I & II“ nimmt sein Leben eine dunkle Wendung, als er entdeckt, dass die zwei begehrenswerten Mitarbeiterinnen aus der Tagschicht (Milena Tscharntke und Pauline Fusban) offenbar aus Mordlust ein blutiges Verbrechen planen. Der dampfplaudernde Hausmeister (Jörg Schüttauf) spricht zwar von Diebstahl, aber Mika weiß es besser. Schließlich ist er als Bogenschütze Moto edelster Kämpfer im Videospiel „Amyrana“ und nimmt es sogar mit der Orkhexe (Stelzenläuferin Steffanie Gätjens) auf.
Den Schlüssel zu der abgründigen Phantasie-Gemengelage, zu der sich die Folgen vernetzen, bildet der Auftakt, die Folge „Lill“. Lill (Hannah Schiller) ist hochallergisch und darf nie nach draußen. Ihre Mutter Tess (Silke Bodenbender, mit dämonischer Doppelgesichtigkeit) sorgt sich, diese Medikamente, schottet Lill ab. In Wahrheit mag sie eine Hexe sein und Lill umbringen wollen. Online stößt Tess auf zwei Chatfreunde Lills, die sich als menschliche Versionen des Höllenhunds Zerberus entpuppen. Ihre Wahrheit, ihre Geschichten zeichnet Lill in Mangas (die Zeichnungen stammen von Hannah Schiller).
Dass alle sechs Filme Ausgeburten von Hannas Phantasie sind, eine Phantasie, die sich nur eingeschränkt an der Wirklichkeit reiben darf, scheint nicht aus der Welt. Es bleibt im Halbdunklen. Auch das Unbestimmte und Mehrdeutige bildet Erzählmuster in „Die nettesten Menschen der Welt“.
Ähnlich genialische, die Voraussetzungen ihrer Erzählmotivation und eutende Fiktion gibt es im Fernsehen selten zu sehen. Die hier zu bestaunenden Luftschlösser, aus gelegentlich bluttriefenden Wolken gebaut, bezeichnet das Begleitmarketing doof bis irreführend als „Reaktion auf die neuen Sehgewohnheiten“. Es jubelt ferner über „die erste Anthologie-Serie der ARD“ und stellt sie in einer Linie mit „Black Mirror“.
Derlei Falschpreisung braucht „Die nettesten Menschen der Welt“ wie ein Loch im Knie. Schon der Titelsong von Dirk von Lowtzow von „Tocotronic“, der auch in einer kleinen Rolle als unheimlich geräuschempfindlicher Hotelgast auftaucht, geht in seiner „Dämonie der Gemütlichkeit“ (Hilde Spiel) durch Mark und Bein. Alexander Adolph (Buch, Regie und Koproduktion) und Eva Wehrum (Buch und Koproduktion) sowie die hinterhältige Kamera von Jutta Pohlmann und der raffinierte Schnitt von Jörg Hauschild schaffen ihren ganz eigenen Resonanzraum. Besondere Effekte und Computeranimationen, Kostüme und „Elmchen“ stammen von Schwerthelm Ziehfreund. Für das riesige Waldgebiet des Videospiels „Amyrana“ konnte der britische Dokumentarfilmer Scott Tanner Motive der norddeutschen Göhrde verwenden. Solche Detailliebtheit zahlt sich aus.
Dass allerdings die ARD glaubte, hochkarätiges Erzählwerk dem primären Publikum der ARD-Mediathek anvertrauen zu müssen – denn für diese ist „Die nettesten Menschen der Welt“ entstanden – und linear alle Folgen hintereinander einmal in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli zur Geisterstunde wegsendet, zeigt die Geringschätzung, die man im Senderverbund inzwischen für das klassische Fernsehpublikum empfunden hat.
Die nettesten Menschen der Welt steht ab 21. Juli in der ARD-Mediathek. Im linearen Fernsehen laufen alle sechs Folgen hintereinander in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli ab 0.05 Uhr.
Quelle:Aktuell – FAZ.NET