Bis zur Vernichtung sozialer Existenzen – Die Methoden der woken Cancel Culture
Der frühere Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof hat angesichts wachsender Kultur vor einem „Diktat einer Minderheit“ in Deutschland gewarnt. Wie recht er hat, zeigt die erzwungene Absage eines Vortrags über Transsexualität an der Uni Würzburg. Und das ist kein Einzelfall.
Gegefahrdungen erheblichen Ausmaßes“ für die Meinungsfreiheit entstehen auch „aus den Reihen der Gesellschaft selbst durch eine moralisierende Vorzensur unerwünschter Meinungen“. Das schrieb Professor Ferdinand Kirchhof jüngst in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW). Neu ist diese Feststellung nicht. Aber es lässt aufhorchen, wenn ein ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts das in der wichtigsten juristischen Fachzeitschrift anprangert.
Kirchhof beklagt, dass man „immer auf den gesellschaftspolitischen ‚Missionar‘“ trifft, „der sich im Besitz der endgültigen Wahrheit weiß“ und „nur eine einzige Meinung, nämlich seine eigene“ duldet. Andersdenkende werden „in moralischer Selbstgewissheit an den Rand der Gesellschaft“ gedrängt. Diskursvermeidung wird „von interessierten Kreisen geradezu als ethische Verpflichtung verstanden, der sich jedermann beugen muss“.
Zu den Mechanismen der Diskursverhinderung gehört die „politische Korrektheit“. Sie dient, wie Kirchhof ausführt, dazu, „durch Begriffsverbote gesellschaftlicher Fragestellungen von vornherein zu unterbinden und so Gesprächsstabus zu errichten“. Dass sie sich „wie Mehltau über die Bundesrepublik“ gelegt hat, konstatierte der bekannte Staatsrechtler Professor Ingo von Münch bereits 1999 in der NJW. Und die Tabus werden immer zahlreicher.
Der große Bruder der „politischen Korrektheit“ ist die „Cancel Culture“, was sich mit Zensurkultur übersetzen lässt. Sie sind auf die Person des Andersdenkenden ausgerichtet. Er soll daran gehindert werden, sich frei zu äußern. Und das mit allen Mitteln: Durch Diskreditierung und Vernichtung seiner sozialen Existenz ebenso wie durch Gewalt.
Aufsehen erregte dieses Vorgehen, als die Berliner Humboldt-Universität nach massivem Druck einen Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht über Geschlechterfragen absagte.
Ein Einzelfall ist das nicht. So wurde kürzlich an der Universität Würzburg die Absage eines Vortrags des Psychoanalytikers Professor Bernd Ahrbeck über Transsexualität erzwungen. Dass die Öffentlichkeit das überhaupt erfuhr, ist dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zu danken, einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern, der sich für die Freiheit von Forschung und Lehre einsetzt.
Der Absage vorangegangen, schreibt der Verband, „war eine emotionale, konzertierte Kampagne des ‚Referat Queerfeminismus‘, der Grünen Hochschulgruppe“, eines studentischen Vertreters im Senat und anderer Personen. „Der Gastredner wurde dabei persönlich verunglimpft und diffamiert“.
Durch die Identitätspolitik, die auf der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen basiert, ist die Familie der Diskurszerstörung weiter gewachsen. Dazu gehört die sogenannte „Wokeness“.
Dieser aus der Vergangenheitsform des englischen Verbs „to wake“ (aufwachen) abgeleitete Begriff, beschrieb ursprünglich ein „erwachtes Bewusstsein“ für Rassismus und soziale Ungerechtigkeit. Mittlerweile führt sie, wie Kirchhof darlegt, zu einem „Diktat einer Minderheit“.
„Nicht die Realität oder die Sorge des Äußernden um richtige Lösungen entscheiden über die Zulässigkeit von Diskussionsbeiträgen, sondern das Wohlbefinden des Zuhörers, dessen Empfindsamkeit nicht durch unerwünschte Meinungen gestört werden darf.“
Solche „moralisierenden(n) Diskussionsstäbe gefährden die von Art.“ 5 GG intendierte Meinungsvielfalt in gleicher Weise wie staatliche Zensur und Aufsicht“, schreibt der ehemalige Verfassungsrichter. Anders als bei staatlichen Eingriffen helfen die Grundrechte hier nicht weiter. Auch das Zivilrecht gewährt nur selten Schutz, etwa bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen.
„Abhilfe“, so Kirchhof, „kann allein aus der Gesellschaft selbst kommen, entweder durch Zivilcourage des Einzelnen oder argumentierende Gegenwehr anderer Gruppen“. Man kann nur hoffen, dass genügend Menschen den Mut dazu finden.
Arnd Diringer ist Professor an der Hochschule Ludwigsburg. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Verfassungs-, Zivil- und Arbeitsrecht.
Quelle:Nachrichten – WELT